Marianne von Willemer
Goethe und der Cäcilien-Verein
Was ist Gesang? Was, kaum gehört,
Dich faßt, dich hält, dich mit sich nimmt
Und, wie durch Liebe schön bethört,
In seinen Ton die Seele stimmt,
Dich ernst macht, dann bald hoch dich schwingt
Zu dem, was heilig, ewig groß,
Bald dich zum Mitgefühle stimmt
Mit Erdenschönheit, Menschenloos,
Was du erlebt, in dir erneut
Und rein und mild dir’s nun gewährt,
So daß, was schmerzte, sich verklärt,
Was freute, inniger erfreut.
Was dieß nicht wirkt, ist nicht Gesang,
Ist Klang nur, höchstens hübscher Klang.
Die Frau, in deren Nachlaß sich diese Zeilen fanden, hat den Frankfurter Cäcilien-Verein 42 Jahre lang begleitet – von seiner ersten Probe an, dem 24. Juli 1818, fast bis zum Einzug in den Saalbau, dem Beginn einer neuen Ära. Ihr berühmter Name ist unlösbar verknüpft mit dem des größten Sohnes der Stadt – mit dem Goethes. Es ist keine andere als Marianne, die „Frau Geheimrat von Willemer“.
Im Sommer 1818 lag der für die Dichtung so bedeutsam gewordene Besuch Goethes bei der „Frau Geheimrat“ schon drei Jahre zurück. Die Wochen vom 12. August bis zum 20. September 1815 hatte der damals Sechsundsechzigjährige als Gast teils auf dem Landsitz Gerbermühle, teils in der Stadtwohnung am Fahrtor, dem Haus „Rotes Männchen“, verbracht. Kurz zuvor hatte Jakob von Willemer, Kaufmann, Bankier und Theateraktionär, die langjährige Hausgenossin und Gefährtin seiner Kinder, Marianne Jung aus Linz, als dritte Frau heimgeführt. Die Begegnung der damals Dreißigjährigen mit dem von Jugend an Verehrten schenkte dessen Gedichtzyklus „Der west-östliche Divan“, was ihm zur Vollendung fehlte: die Verkörperung einer fiktiven Gestalt. Marianne wurde Suleika, die Geliebte Hatems im „Divan“. Und erst nach einem halben Jahrhundert erfuhr die Welt, daß Verse Suleikas, von den Zeitgenossen als Goethes schönste gepriesen, in Wahrheit Mariannes Feder entstammten, der Feder einer kongenialen Dichterin. Nach dem Aufenthalt von 1815 hat Goethe seine Vaterstadt nie wieder betreten und allen herzlichen, ja dringenden Einladungen der Willemers widerstanden. Die Literaturhistoriker haben dies als männliche Entsagung gerühmt. Für Marianne jedoch hatten die Wochen mit dem Gast aus Weimar „das letzte Glück“ bedeutet. Unsagbar litt sie unter der Trennung, die sich von Jahr zu Jahr als endgültiger erwies. Ein „verwundetes Hertz“ war zurückgeblieben und eine sich steigernde „reitzbarkeit der Nerven“. Vorwurfsvoll fragte der Gatte im Februar 1818 in einem Brief an den fernen Freund: „Warum mußten wir so lang getrent seyn, es war ausserdem so weit nicht gekomen.“
Mitte Juni desselben Jahres dann fiel Willemers einziger Sohn Brammy in einem Duell. Wenige Wochen später begannen Schelbles Proben. Goethe schwieg. Als im November schließlich ein Brief von ihm eintraf, hatte der neue „Singverein“ am 28. Oktober schon sein erstes Konzert gegeben. Es war Mozarts „Zauberflöte“.
Das Unternehmen eines gemischten Chores war zu seiner Zeit absolut revolutionär, und Marianne von Willemer tat mit ihren weitverzweigten persönlichen und gesellschaftlichen Verbindungen alles ihr Mögliche, um ihm die notwendige personelle und materielle Grundlage zu verschaffen. Niemand vermag zu sagen, wieviel Leid in ihrem feurigen Einsatz für die „holde Kunst“ mitschwang, durch ihn gelindert, vielleicht sogar gemeistert wurde. Marianne selbst wußte ja um die geheimen Zusammenhänge zwischen Singen und Seele. Das zeigen ihre nachgelassenen Verse über den Gesang, in dem „was schmerzte, sich verklärt“. Über einhundert Kompositionen von ihr sollen verschollen sein.
Die „Frau Geheimrat“ war eine Künstlernatur. Bis zu ihrem 16. Lebensjahr war sie öffentlich als Tänzerin aufgetreten. In der Rolle eines Harlekins hatte sie den romantischen Dichter Clemens Brentano bezaubert. Ihre schöne Sopranstimme bildete sie bei Schelble weiter. Auch spielte sie vorzüglich Gitarre. 1806 hatte sie als Sängerin und Instrumentalistin das Entzücken der Kaiserin Josephine, der Frau Napoleons, einer Musikkennerin, erregt. Die Innigkeit ihres Gesangs rührte auch den Wegbereiter der modernen Pädagogik, Pestalozzi. Goethe schließlich, dem sie viele Lieder vortrug, schwärmte Zelter, dem Freund und musikalischen Vertrauten, von ihr vor.
Ein Urteil Mariannes dürfen wir darum sicher ernstnehmen. Über die Totenfeier ihres „Singvereins“ für Mozart am 5. Dezember 1820 schreibt sie an Goethe: „Ganz besonders gut waren die Chöre. Wie glücklich hätte es mich gemacht, Sie unter den zahlreichen Zuhörern zu wissen! Ihre Anerkennung, ja ich darf sagen Ihr Beyfall würde am schönsten ausgesprochen haben, was über ein solches Unternehmen zu sagen ist.“
Schon 1817, also vor der Gründung des Cacilien-Vereins, ist in dem Briefwechsel zwischen den Willemers und ihrem erlauchten Freund mehrfach von einem Frankfurter „Tonkünstler“ die Rede, eben Schelble. Sogar der Plan einer Zusammenarbeit zwischen dem „originalen Musicus“ und dem Dichter wird erwogen. Das Ergebnis wäre nach Jakob von Willemer „eine Tonlehre, wodurch die Music in ihre verlohrenen Rechte wieder eingesetzt würde“. Doch weder die Bitten der „lieben Schülerin“ Marianne noch der Ruhm des „trefflichen Musikmeisters“ Schelble noch auch Goethes Wunsch, „einmal Ohrenzeuge zu werden all des Guten, was durch ihn gestiftet wird“, vermochten den Dichter zurück an den Main zu bringen. Und so tauchen Schelble und sein Chor in den Briefen aus Goethes letzten Lebensjahren nicht mehr auf.
Marianne aber blieb dem Unternehmen bis an ihr Lebensende treu. Der Verlust ihrer Stimme hinderte sie nicht daran, erfolgreich als Gesangspädagogin tätig zu sein. Frühzeitig erkannte sie das Talent ihrer berühmtesten Schülerin Sabine Heinefetter, die eine internationale Bühnenkarriere machte. Marianne schrieb ihr in einem Abschiedsgedicht:
„Du bist erwählt, im Reich der Harmonien
zu wirken durchdes Tones Zauberhauch,
Talent und Stimme hat dir Gott verliehen,
veredle sie durch würdigen Gebrauch.“
Auch für Julie Lampmann, eine Sängerin vom Stadttheater, die bei ihr Unterricht nahm und 12 Jahre lang hintereinander als vereinseigene Solistin in den Konzerten des Cäcilien-Vereins auftrat, schmiedete sie Verse. Ihrer Freundin Jenny Lind, der „Schwedischen Nachtigall“, vertraute sie das Geheimnis an, daß sie Goethes Suleika sei.
Doch muß Marianne auch eine Frau gewesen sein, die mit beiden Beinen auf der Erde stand. Wir finden ihren Namen nämlich auch auf der Urkunde, mit der am 3. November 1819 Chor und Dirigent wirtschaftlich abgesichert wurden. Freilich konnte sie zu ihrer Zeit nicht ahnen, welchen Bewährungs- und Zerreißproben ihr geliebter „Singverein“ im 20. Jahrhundert einmal ausgesetzt sein würde: daß Geldentwertungen, Kriege und Zerstörungen, daß Verfolgungen, Arbeits- und Todeslager die materiellen Existenzbedingungen fast total ausradieren und viele Menschenleben vernichten würden. Ebenso wenig hätte sie sich vorstellen können, daß Medienkultur, Auto- und Fußballkult, daß Atom- und Ozonloch-Angst die Musik und ihre Freunde bedrängen könnten.
Sie kannte „nur“: „Geldstolz, Neid, Kleinigkeitskrämerei und gänzlichen Mangel an Sinn für ernste Musik (ja, wer die unnennbaren Dinge nennen könnte, die in einer Stadt wie Frankfurt einem solchen Unternehmen im Wege stehen!)“ Nullbock und Frust aber hätte sie weggesungen. Und im 175. Lebensjahr ihres „Singvereins“ dürfte sie wie einst befriedigt feststellen, daß es trotz allem „doch gelang, die zähe Masse in Gährung zu bringen,“ und hoffen, „daß es von den heilsamsten Folgen seyn möchte.“
Eva Zander, 1993